Die andere Seite
"Jeden Morgen wenn ich aufstehe, bete ich zu Gott. Ich bete, dass ich genug Geld verdienen werde, um etwas nach Hause zu meiner Familie schicken zu können. Ich bete, dass ich nicht verprügelt oder vergewaltigt werde, dass ich Kunden bekomme, die ein Kondom benutzen wollen und dafür, dass ich die Kraft finde, am nächsten Tag wieder aufzustehen."
Stella
Geben wir es zu! Wir haben manchmal Vorurteile. Ich gebe es zu. Ich habe manchmal Vorurteile. Ich hatte Vorurteile Abhängigen gegenüber, obwohl ich selber Abhängig war und auch noch bin. Nennen wir ein bestimmtes Wort, haben wir zu diesem Wort sofort ein für uns passendes Bild vor unserem geistigen Auge.
Wenn ich das Wort "Apfel" sage, was siehst du vor deinem inneren Auge?
Wenn ich das Wort "Abhängige(r)" sage, was siehst du vor deinem inneren Auge?
Und wenn ich das Wort "Sexarbeiterin" sage, was siehst du dann?
"Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass das Klischee des kaputten und schlechten Elternhauses nicht den Großteil ausmachen, weswegen sich junge Mädchen anfangen zu prostituieren."
Lena
Die Welt durch die Augen einer Frau sehen. Die Welt durch die Augen einer Prostituierten sehen, durch mehrere Augen. Den Blickwinkel ändern. Geschichten durch Bilder erzählen. Das ist das Ziel des Projekt Photovoice des Frauentreff Olga aus Berlin welches im Zeitraum von Januar bis Oktober 2014 mit den Frauen durchgeführt wurde.
Mit dem Frauentreff Olga bietet der Drogennotdienst Berlin e.V. eine direkte Anlaufstelle für Drogen konsumierende Frauen, Sexarbeiterinnen und Transfrauen. Dabei unterstützt der Frauentreff Olga Opfer von Menschenhandel und Gewalt, insbesondere wenn dies zum Zweck der sexuellen Ausbeutung erfolgt. Den Drogennotdienst gibt es seit 1984, den Frauentreff Olga seit 1987.
Lilli Böwe arbeitet seit 5 Jahren beim Frauentreff Olga und war dort zuvor schon als Praktikantin und ehrenamtliche Mitarbeiterin tätig.
Welche Frauen suchen den Frauentreff auf?
Frauen, die sich prostituieren und/oder abhängig sind.
Was ist die konkrete Arbeitsweise und was sind die Projekte des Frauentreffs Olga?
Wir sind eine niedrigschwellige Kontakt- und Beratungsstelle. Das heißt, wir bieten alle lebensnotwendigen Überlebenshilfen an. Das obere Ziel ist natürlich, in weiterführende Maßnahmen zu vermitteln aber erst einmal den Einstieg in unser System zu ermöglichen und das machen wir über Kondomausgabe, Spritzenausgabe, Essen, Trinken, Schlafen, Kleider waschen, Duschen und eben natürlich auch Beratung. Zusätzlich machen wir noch ganz viel Streetwork, teilweise zwei Mal am Tag. Das heißt, wir suchen auch Frauen auf, die uns noch nicht kennen oder noch nicht zu uns kommen wollen oder dürfen. Im Rahmen der Eingliederungshilfe bieten wir auch noch psychosoziale Betreuung für Frauen im Substitutionsprogramm an.
Grundsätzlich kommen die Frauen erst einmal mit allen Problematiken zu uns, weil wir meistens die erste und einzige Anlaufstelle für sie sind. Das fängt bei Handyrechnungen an, Autoversicherungen, Kindergeld, ALG II Anträge und dann schauen wir, ob die Anliegen zu unserem Aufgabenbereich gehören oder eher zu einer anderen Einrichtungen.
Inwieweit spielt das Thema Sucht bei den Frauen eine Rolle?
In den 90er Jahren war der Kiez, in dem wir uns befinden, originär auch der Drogenstrich. Deswegen wurde das Projekt hier auch ursprünglich als Präventions- und Profilaxemaßnahme gegründet. Als dann aber Methadon zufällig entdeckt wurde und auch Substitutionsprogramme in der gesundheitlichen Versorgung installiert wurden, haben zumindest die von Heroin abhängigen Frauen deutlich abgenommen. Das heißt aber nicht, dass es die hier nicht mehr gibt und wir haben natürlich auch alle anderen Formen von Suchtstoffen hier. Meistens ist es so, dass die Frauen entweder der Prostitution nachgehen, um sich ihre Sucht zu finanzieren oder sie haben überhaupt gar keinen problematischen Konsum, oder sie haben angefangen zu konsumieren, weil sie eben so viele Belastungen innerhalb der Sexarbeit hier am Straßenstrich gemacht haben. Das fängt dann meistens damit an, dass sie erst einmal aufputschende Mittel präferieren und tatsächlich erst einmal so etwas wie Energy Drinks und Kaffee, weil sie eben lange stehen müssen und Kälte aushalten müssen, lange Arbeiten müssen und da sind aufputschende Mittel erst einmal hilfreich. Darüber kommen sie dann über Freier, andere Frauen, oder ihren Zuhältern vielleicht auch mal an andere Drogen und so kann sich der Konsum im Verlauf dann durchaus steigern.
Was ist das Ziel eurer Arbeit?
Letztendlich geht es darum, was die Frauen möchten. Ich hole keine Frauen von der Straße. Wenn, dann holen sich die Frauen selbst von der Straße und das auch nur, wenn sie das möchten und auch nur, wenn sie die Zugangsvoraussetzungen dafür haben. Jemand der kein Deutsch spricht und in der vierten Klasse von der Schule abgegangen ist, der wird es sehr schwer haben hier einen anderen Job zu finden.
Was sind die Themenschwerpunkte, mit denen die Frauen zu euch kommen?
Wir haben mehrere Kernthemen, die verhäuft auftreten. Häufig hängen die auch mit Migration zusammen, beispielsweise, wenn es um Wohnungslosigkeit geht. Die Frauen haben dann möglicherweise nicht die notwendigen Papiere für eine Anmeldung und wer keine Anmeldung hat, kann sich meistens auch keinen regulären Job suchen. Wer keinen regulären Job hat, findet keine Wohnung, mit der man keine Anmeldung bekommt und so dreht sich das dann immer im Kreis. Gesundheitliche Fragen sind ganz hoch angesiedelt. Wir haben ganz viele Frauen, die schwanger werden und dann abtreiben müssen. Ein Hauptthema sind auch dysfunktionale Beziehungen zu gewalttätigen Partnern. Natürlich auch der Wunsch nach Ausstieg und der Wunsch in andere Versorgungssysteme einzutreten.
Sind die meisten Frauen gezwungener Maßen als Sexarbeiterin tätig?
Wo fängt denn Zwang an? Meist denkt man ja an personellen Zwang wie beispielsweise, dass der Zuhälter die Frau dazu zwingt auf den Straßenstrich zu gehen. Aber Zwang bedeutet ja auch, dass man mit einem sehr niedrigen Bildungsstand, ohne Sprachkenntnisse, ohne Papiere, keine andere Alternative hat als mit Prostitution verhältnismäßig leicht Geld zu verdienen. Wenn einem keine Möglichkeiten gegeben werden, auf Sozialleistungen zurück zu greifen und damit vielleicht damit eine Chance zu bekommen in gesicherte Wohnverhältnisse zu kommen ist das auch ein Zwang. Wenn einem die Familie zu Hause die ganze Zeit darum bittet Geld nach Hause zu schicken, ist das auch ein Zwang. In so fern sind hier schon sehr viele Frauen in Zwangskontexten. Es gibt aber auch immer zwei Seiten der Medaille und es gibt immer noch wahnsinnig viele Frauen, die das hier freiwillig und selbstbestimmt machen, obwohl sie andere Alternativen hätten.
Frauen haben es in so fern schwerer, weil sie in der Masse oftmals untergehen und weil sie dann auch eher auf andere Lösungen zurück greifen. Männer gehen dann beispielsweise eher der Beschaffungskriminalität nach, wenn sie abhängig werden. Frauen verkaufen dann eher ihren Körper. Frauen neigen dann auch eher dazu, nicht in Wohnungslosen - Unterkünfte zu gehen, weil sie sich dort unwohl fühlen. Dafür schlafen sie dann bei Feiern, die aber auch wieder Gegenleistungen verlangen. Da haben Frauen und Männer ganz unterschiedliche Problemlagen.
Stimmen
Ivanka
"Ich schlafe sehr oft im Park, denn ich genieße es in der Natur zu schlafen. Ich schlafe dort mit einer Decke. Es gibt frische Luft und ich kann den Himmel und die Sterne sehen, wenn ich auf der Wiese liege. Natur bedeutet für mich Leben."
Anna
"Früher habe ich hochhackige Schuhe getragen, jetzt nicht mehr, weil mir die Füße so wehtun. Sonst möchte ich nur noch sitzen, weil mir die Füße so wehtun. Wenn man an der Straße lange warten muss, ist das sehr anstrengend, zu anstrengend."
Nadine
" Der Verdienst ist lange nicht mehr der, der er mal war. Die Freier sind auch nicht mehr die, die sie mal waren. Die Arbeitsweise, die ich mal gelernt habe, kann ich heute kaum noch anwenden. Heute muss eine Frau fast 100 Prozent von sich verkaufen, damit sie überhaupt ein bisschen was verdient. Der Lernprozess von alter zu junger Hure ist nicht mehr da. Früher haben die Alten den Jungen gezeigt wie man arbeitet."
Piroska
" Wir sehen uns oft die Schaufenster von den Möbelhäusern an, die hier um die Ecke sind. Das machen alle Frauen. Dann stellen wir uns vor, dass es unsere Möbel wären, in unseren eigenen PIROSKA Wohnungen. Wir stellen uns das oft zusammen vor. Das ist ein riesiges Gesprächsthema. Niemand dürfte mit Schuhen in meine Wohnung und auf meinen schönen Teppich gehen."
Laura
"Ich bin auch wie andere Menschen, ich habe eine Familie, einen Freund, eine Katze und Freunde. Es wäre schön, wenn uns die Menschen ohne Vorurteile begegnen würden und offener wären. Denn wie wäre es wohl, wenn das Ihre Tochter wäre?"
Daisy
"Auch wenn ich auf der Straße als Junge unterwegs war, fühlte ich mich diskriminiert, weil ich so wirkte als wäre ich schwul und dann wurde ich auch wieder diskriminiert. Ich bin in Bulgarien geboren, gehöre einer türkischen Minderheit an und spreche Türkisch."
Natascha
"Ich konnte die bisher gemachten Fortschritte so für mich nutzen, dass ich eine Weiterbildungsmaßnahme gemacht habe. Mittlerweile bin ich mitten in einer Ausbildung und werde in einem guten Jahr dann doch noch einen Berufsabschluss in der Tasche haben."
Eva
" Von den Autos die vorbeifahren hält fast keiner und die, die kommen, wollen Genuss ohne Schutz. Aber Hauptsache das ganze Auto ist mit Familienfotos tapeziert. Ein VIVA auf die Liebe zur eigenen Frau. Und VIVA, dass ich nur so selten hier bin. Hinter meinem Po spüre ich eine Bewegung. „Was meinst du?“ höre ich eine Stimme. Ich drehe mich um. Ein Mann mit Hund und einem jungen Mädchen, auf den ersten Blick ziemlich sympathisch. Ich bin ein bisschen geschockt. „Was meinst du?“ wiederholt mein Freund seine Frage. „Ist das…ist das Ihre Tochter?“"
Ressourcen: Drogennotdienst Berlin// Frauentreff Olga // Photovoice Projekt
Interview: Lilli Böwe
photo credits: Danielle Dolson; Kyle Glenn // unsplash
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