Zwei Jahre. 731 Tage. Wir feiern uns zu selten. Wir sollten uns viel mehr feiern. Wir sollten unserer Nüchternheit mit einem riesengroßen Lächeln auf unserem Gesicht um den Hals fallen und ihr Danke sagen. Danke, danke, danke!
Wir sollten uns bei uns selbst bedanken. Danke, dass wir auf uns aufgepasst haben. Danke, dass wir uns achten. Danke, dass wir uns lieben. Danke, dass wir ein offenes Ohr für uns haben und uns in "Selbst - Mitgefühl" üben.
Wir sollten uns bei den Menschen bedanken, die mit uns durch die dunkelsten Stunden gegangen sind, ohne mit der Wimper zu zucken. Ist das für
Freunde und Familie selbstverständlich? Ich bin mir nicht sicher, denn wenn es um uns herum ganz dunkel ist, dann können wir ganz schön anstrengend sein und
unser Gegenüber kann sich so machtlos fühlen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es für meine Familie und für meine engsten Freunde gewesen sein muss, mich vor zwei Jahren zu sehen. Ich glaube,
sie waren sehr traurig. Und ich glaube, ich wäre auch sehr traurig gewesen, hätten wir die Rollen getauscht.
Da waren eine Handvoll Menschen. Da waren eine Mama, ein Papa, ein Bruder und seine Frau, eine Nichte, eine beste Freundin, ein bester Kumpel und einer, der es später noch werden sollte, eine
Anna, eine Domi und zwei unfassbar wundervolle Menschen aus einem anderen Land. Ich kann nicht ansatzweise in Worte fassen, wie unendlich dankbar ich euch bin. Ich kann nicht
einmal ansatzweise beschreiben, wie unfassbar viel Kraft ihr mir gegeben habt, wie unfassbar wertvoll ihr seid. Ich kann nicht einmal annähernd beschreiben, wie viel ihr mir bedeutet, wie viel es
mir bedeutet hat, dass ihr in dem Moment da ward, an dem ich eigentlich nicht mehr da sein wollte. Und ich bin euch so unendlich dankbar, dass ihr mich gesehen habt, dass ihr
meine Hand gehalten habt, mich umarmt habt, mir meine Tränen getrocknet habt, mir mit eurem Handrücken über meine Wange gestreichelt habt und auch bei euch Tränen flossen, ihr mir aber immer und
immer wieder gesagt habt, dass alles wieder gut wird, obwohl ihr eventuell selbst nicht genau wusstet, wie das denn genau funktionieren soll.
Wir sollten vielleicht auch viel öfter einmal inne halten, durchatmen und schauen, was wir alles schon erreicht haben. Wo wir heute stehen und wo wir vor einem Jahr, zwei Jahren, einer Woche, einem Tag noch standen. Das vergessen wir nämlich oftmals - ich vergesse es zumindest ab und an einmal ganz gerne. Ich möchte meist immer ganz schnell ganz nach vorne, weil in meinem Kopf alles schon fertig ist. Seitdem ich nüchtern bin und mein inneres Kind an der Hand halte, sprudeln die Ideen manchmal so unfassbar schnell, dass ich gar nicht weiß, wie ich alles umsetzen soll. Am besten gleich, am besten schon gestern und nicht erst morgen und wenn es dann nicht schnell genug geht, dann erschöpfen mich ab und an mal meine eigenen Gedanken. Also wollte ich den heutigen Beitrag nutzen, um Revue passieren zu lassen, was in 731 Tagen nüchternem Leben so alles möglich sein kann.
Blogbaby
Vor gut einem Jahr habe ich begonnen an diesem Blog herum zu basteln und hätte mir vor zwei Jahren jemand gesagt, dass ich einmal so unbefangen
über Abhängigkeit bloggen werde, dann hätte ich dieser Person nur fassungslos in ihr Gesicht gestarrt.
Ich kann mich noch genau an den
Moment erinnern, an dem ich die Idee zu dem Logo hatte. Allerdings wusste ich damals noch nicht, ob es ein Buch oder ein Blog werden wird. Es war Januar, es war kalt, es war
zwischen 06.00 und 07.00 Uhr morgens und ich ging fast jeden morgen, bevor der Klinikalltag losging joggen. Ich joggte zum Völkerschlachtdenkmal, rannte die Treppen hinauf, schaute in die Ferne
und rannte die Treppen wieder hinunter. Ich rannte Runde um Runde auf einem nahe gelegenen Sportplatz. Die Sonne ging auf und Musik wummerte in meinen Ohren. Beim Joggen kommen mir meist die
spontanen Ideen. Ich joggte, die Sonne strahlte mir in mein Gesicht und plötzlich hatte ich das Bild vor Augen. Herz Sucht Fluss und das Logo. Genau so,
wie es heute eben aussieht. Ich war erstaunt über die Klarheit des Bildes und hatte wieder einmal keine Ahnung, woher dieser Geistesblitz kam, aber da war er und die Idee
zu dem Blogbaby wurde geboren. Und manchmal kann ich gar nicht glauben, was aus dieser Idee alles entstanden ist und was daraus noch folgen wird. Ein Interview mit der Zeit Online, ein Interview mit der Woman Österreich, ein Interview mit dem Deutschlandradio und so viele neue Bekanntschaften, Pläne und
Ideen. Nicht jeder Beitrag fällt leicht, manchmal überkommen mich die Zweifel und ich denke mir: "Habe ich das jetzt wirklich gemacht? Habe ich wirklich so offen angefangen über Sucht zu
reden? Was habe ich mir bloß dabei gedacht?". Aber mit jeder Nachricht, die mich erreicht und mit jeder Unterstützung, die ich geben darf weiß ich, es war die richtige Entscheidung.
Band
Wir haben eine Band gegründet. "The Seriously's". Und wir haben uns vor lauter Lachen die Bäuche halten müssen. Anlass war die
Hochzeit meines Bruders. Ich habe früher oft gesungen. Ich war in unzähligen Chören, hatte eine Zeitlang Gesangsunterricht und habe mich dann irgendwann getraut alleine auf
einer Bühne vor Menschen zu stehen und zu singen. Mein Halt und meine Unterstützung war meist ein Glas Wein, oder ein paar Gläser Wein - zum locker werden, loslassen, Gedanken verlieren und
(pseudo) selbstbewusster werden. Die Exit - Strategie gibt es jetzt aber nicht mehr. Jetzt heißt es "All In". Vor mir fremden Menschen zu singen ist gar nicht mal
das Problem, aber dies war die Hochzeit meines Bruders. Das bedeutet viel, denn im besten Falle heiratet er nur ein Mal in seinem Leben und bleibt mit seiner wundervollen Frau bis ans Ende seiner
Zeiten zusammen - das haben sie sich zumindest geschworen und das wünsche ich mir aus tiefstem Herzen für die Beiden.
Keine Exit -
Strategie zum Lockermachen und ein Schwur für's Leben. Uns ging der Arsch auf Grundeis. Kurz vor unserem Auftritt saß ich so unfassbar aufgeregt da und habe das Leben immer und immer wieder darum
gebeten, dass es uns dabei hilft ruhig zu bleiben, dass alles gut werden wird, dass wir Töne treffen und Freudentränen kullern werden und Aufregung dann plötzlich verschwunden sein wird.
Und es hat funktioniert. "Sober Firsts" sind die Challenge, da wir nicht wissen, wie es nüchtern sein wird aber wie heißt es nochmal so schön?: "Wer nicht wagt, der
nicht gewinnt!". Am Ende war das Brautpaar um mehr als 100 Euro reicher. Yes!
Sober Firsts
In den letzten zwei Jahren gab es so viele nüchterne erste Male, die von großer Bedeutung waren. Das erste Mal nüchtern in einer Bar. Das erste Mal nüchtern tanzend im Club. Das erste Mal nüchtern singend vor Menschen. Das erste Mal nüchtern sprechend vor Menschen. Der erste nüchterne Kuss, das erste nüchterne Mal. Der erste nüchterne Hochzeitsbesuch. Das erste Mal nüchtern sein, wenn Menschen um mich herum trinken. Das erste nüchterne Interview und noch eins und noch eins. Das erste Mal keinen Mut mehr antrinken, sondern mutig sein. Das erste Mal Texte schreiben, ohne vorher eine halbe Flasche Wein zu trinken und diese dann auch noch zu veröffentlichen. Die ersten nüchternen Geburtstage, das erste nüchterne Weihnachten, das erste nüchterne Osterfest, das erste nüchterne Neujahrsfest. Das erste Mal "Nein" zu Alkohol sagen. Das erste Mal nüchterne Trennung, der erste nüchterne Umzug. Das erste Mal klare Gedanken und das Tag für Tag seit 731 Tagen. Wie unfassbar cool ist das denn bitteschön?
731 Tage ohne Kater, ohne Bäh - Gefühl. Ich wache seit 731 Tagen jeden Morgen auf und habe klare Gedanken. Das ist das unbeschreiblichste Gefühl, wenn man bedenkt, dass ich die Jahre davor fast jeden Tag mit diesem zähen, schweren Gefühl aufgewacht bin. Für mich ist das wertvollste an meiner Nüchternheit tatsächlich diese unfassbare Klarheit in meinem Kopf. Dieses absolute Bewusstsein über meine eigenen Gedanken und Gefühle - nichts ist verschwommen.
No Smoking Area
Kein Gestank, kein rasender Puls und "Millisekunden - High" mehr - wir beugen der braunen Zähne und schwarzen Lunge vor. Der Geldbeutel ist dadurch auch noch gefüllter. Ich muss tatsächlich zugeben, dass das nochmal eine harte Lektion war. Eigentlich könnte es doch so einfach sein. Rückblickend betrachtete und mit meinem heutigen Gefühl im Bauch könnte ich fast behaupten, dass es gar nicht so schwer war - war es aber doch. Den Glimmstängel sein zu lassen war tatsächlich der Fahrschein in meine Unabhängigkeit. Wobei ich mich fast schon mit Fingernägeln in das Fleisch bohrend darin festkrallte. Wenn ich das jetzt lasse, dann fällt das komplette Kartenhaus in sich zusammen und ich bekomme bestimmt wieder Lust auf ganz andere Sachen, also rauche ich lieber in (pseudo) Sicherheit, damit ich noch etwas zum Festhalten habe. Das ist eine (Freiheits -) Lüge. Je Suchtmittel freier ich in den letzten 2 Jahren geworden bin, desto klarer wurde mir die Illusion, in der ich zuvor gelebt habe. Wie von zähflüssigem Nektar umhüllt badete ich in der Vorstellung, dass ein Suchtmittel freies Leben langweilig und nichts für mich sei. In uns steckt so viel mehr als das. In uns steckt die Klarheit des Augenblicks und die Schönheit des Lebens. Wir müssen nur bereit sein, der Lüge auf die Schliche zu kommen - koste es, was es wolle.
Grenzen im Kopf
Dies kann in zweierlei Richtungen betrachtet werden. Zum einen habe ich gelernt, meine Grenzen zu wahren und mich nicht mehr
emotionslos über meine eigenen Grenzen hinweg zu prügeln. Hieß es zuvor noch schneller, weiter - Break Down, versuche (!) ich heute die Dinge entspannter anzugehen.
Wir sind in Georgien. Wir fahren mit einem Bus von der Großstadt in die Kleinstadt, besser gesagt auf's Land. Wir fahren in die
Berge. Es ist Anfang Mai und die Sonne scheint. Wir entscheiden uns dafür, einen Berg zu besteigen, weil uns versprochen wird, dass man dann klare Seen sieht. Am Fuße des Berges prasselt die
Sonne in unser Gesicht. Wir schwitzen, sind außer Atem und es hat den Anschein, als müssten wir im 90 ° Winkel den Berg hinauf. Wir gehen steil. Ich trage Turnschuhe und ich bin sportlich. Wir
laufen und laufen. Wir laufen immer weiter bergauf. Fast so, als würden wir die nächste Jahreszeit besteigen, betreten wir ein wenig später Matschepampe und ein paar Schritte darauf den
Tiefschnee. Meine Turnschuhe sind aber nicht wasserdicht. Egal, ich bin ja schließlich sportlich und die Sonne scheint, ich habe es bis hierher geschafft, ich gebe jetzt nicht auf. Langsam aber
sicher umhüllt Feuchtigkeit meine Füße. Wir laufen weiter und weiter. Ein Stich in meinem Knie, kurze Zeit später ein weiterer Stich im anderen Knie. Ich bin doch aber sportlich! Wir laufen
weiter und weiter. Die Stiche werden zunächst einmal ignoriert. Hier laufen noch andere Menschen mit Turnschuhen umher, also hab' dich jetzt nicht so! Wir laufen weiter und weiter. Ich frage
mich, ob das der Gipfel des Berges ist, oder ob es in winterlicher Landschaft noch stundenlang bergauf gehen wird. Ich stelle fest, es wird noch weiter bergauf gehen und ab und an versinke ich
knietief im Gebirgsschnee. Egal! Ich bin sportlich und wir gehen jetzt weiter! Andere Menschen laufen ja schließlich auch hier entlang. Nun stechen beide Knie. Ich sinke immer wieder im Schnee
ein. Vor uns breitet sich ein schmaler Pfad aus. Ich blicke nach links und sehe einen steilen Abhang. Ich blicke nach vorne und sehe den langgezogenen Weg, der vor uns liegt und ich sage:
"Ich kann nicht mehr. Ich gehe jetzt zurück.".
Auf der anderen Seite sollten wir die selbst gesteckten Grenzen in unserem Kopf sprengen.
"Du brauchst eine Vision, die größer ist als Du selbst."
Das geht nicht! Das kann ich nicht machen. Das funktioniert nur bei anderen!
Hör' auf Dir so etwas zu erzählen!
Als ich in der 10. Klasse war hatte ich den Plan nach dem Realschulabschluss für ein Jahr in die USA zu gehen, um dann mein Abitur an einem allgemeinen Gymnasium zu machen und später zu studieren. In einer Unterrichtspause redete ich mit meinem damaligen Physiklehrer und er fragte mich nach meinen Plänen. Ich erzählte ganz begeistert, was ich vor habe und er meinte zu mir: "Vlada, möchtest du nicht lieber deinen Realschulabschluss machen und danach eine Ausbildung beginnen?"
Bitte WHAT? Ich schaute meinem Lehrer ungläubig in sein Gesicht und meinte nur: "Nein!" und dache mir: "Und jetzt erst recht!".
Zum Glück haben mich meine Eltern nicht mit 'Ich kann nichts' und 'Das geht nichts' erzogen, sondern waren immer der festen Überzeugung, dass ich kann und dass es geht. Auch, wenn ich selbst manchmal dachte, dass es nicht mehr geht.
Zur Vision selbst darf ich momentan leider noch nicht so viel sagen - nur so viel: sie ist definitiv größer als ich selbst. Ein Coaching mit Ruby Warrington, E-mail - und Ideenaustausch mit Tempest. Highest Highs und Panik wechseln sich teilweise im Sekundentakt ab. Das Leben macht das schon und plötzlich erhalte ich aus heiterem Himmel eine Nachricht und die Frage: "Machen wir das gemeinsam?". Ich antworte nur: "Machst du Witze? Hell Yeah!"
Save the Date
Ich so: "Sag mal, wollen wir nicht irgendetwas zum Thema 'Sobriety' oder 'Mental Health' machen?"
Dominique so: "Auf jeden Fall!"
Und auf einmal sind die Mental Health Crowd und HerzSuchtFluss am Planen, Organisieren, Vorfreuen und Aufgeregt sein. Speaker wie Lena Kuhlmann (freudmich) und Kira Siefert (soulfoodjourney) haben schon zugesagt und ich kann es teilweise kaum glauben. (When dreams come fucking true!). Wir planen einen Mental Health Summit und den 07. und 08. November 2020 könnt ihr euch schon einmal ganz fett in euren Kalender eintragen, denn dann gibt es in der Münchner Kongresshalle jede Menge Workshops, Vorträge, Empowernment, ganz viel Spaß, super nette Menschen und ganz viel wissenswertes Rund um das Thema Mental Health! Stay Tuned! <3
Und dann blicke ich auf 731 Tage ohne Stoff zurück und frage mich: "Habe ich das tatsächlich gemacht?" und die Antwort ist: "Ja!" und falls du dich fragst, ob du das auch schaffst, sage ich: "Hell Yeah, Baby!"
Denn nicht vergessen: dein Leben beginnt mit jedem Schluck, den du nicht trinkst!
In Liebe und tiefster Dankbarkeit!
Vlada
photo credits: privat; mentalhealthcrowd
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Dirk (Sonntag, 20 Dezember 2020 09:05)
Hallo Vlada, ein sehr schöner Beitrag und auch sehr motivierend, wenn man sich was vorstellen kann, dann ist es auch möglich, viel Glück weiterhin auf deinem Weg
Gruß Dirk :-)