Oft stellen mir meine Blogleser*innen die Frage, wie ich mit Suchtdruck umgehe, wie ich
dieser Bestie tagtäglich ins Auge blicke? Wie stark ich bin und das ich so mutig bin tagtäglich diesen Kampf zu kämpfen und die Härte der Abstinenz durchzustehen und durchzuhalten. Meistens
pausiere ich dann kurz und frage mich, ob ich irgendetwas falsch mache, oder wovon die Person spricht.
Wäre mein Leben ein täglicher, fast kaum auszuhaltender Kampf, dann würde ich diesen überhaupt nicht kämpfen wollen. Ich will nicht mehr kämpfen und
schon gar nicht gegen mich selbst. Dann hätte ich nämlich keine Lust mehr auf mein Leben. Dann wäre mein Leben anstrengend und das 24 Stunden lang. Versteht mich nicht falsch, ich weiß absolut,
was Suchtdruck bedeutet und ich weiß mit hundertprozentiger Sicherheit auch, was Anspannung ist. Aber Suchtdruck im "klassischen" Sinne, habe ich nicht. Ich habe kein Männchen mehr in
meinem Hirn welches mir erzählen will, dass ich nun trinken oder Drogen konsumieren müsste. Ganz akut habe ich es auch nur ein Mal in meinem Leben in meinem Kopf schreien hören.
Was mache ich denn nun aber anders? Ich glaube, die ganze Trinken/ Nichttrinken, Konsumieren/Nicht - konsumieren Geschichte ist ein ganz persönlicher
Prozess und es steht mir in diesem Zusammenhang alles andere als zu, irgendeinem Menschen auf dieser Welt zu sagen, was er/sie zu tun, oder zu lassen hat. Manche abstinent lebende Menschen können
ohne Probleme alkoholfreie Alternativen trinken - für andere ist es ein großes Rückfallrisiko. Diesbezüglich ist jeder Einzelne für sich selbst verantwortlich und diesbezüglich gibt es auch kein
Richtig und auch kein Falsch. Ich glaube das Wichtigste ist nur, dass wir uns selbst kennenlernen und uns zuhören, um uns irgendwann einmal verstehen zu können.
Nathalie hat mir vor ein paar Monaten in einer von einer Sprachnachricht erzählt, in der ein Mann wohl behauptet hat, dass sie gar nicht wisse, was Sucht eigentlich bedeutet, denn dieser Mann kämpft wohl schon seit über 30 Jahren. Aber richtige oder falsche Sucht gibt es nicht. Es geht doch nicht darum, dass eine*r abgefuckter ist als der/die andere. Das wäre Quatsch und nicht Sinn und Zweck der ganzen Übung und Sinn und Zweck dessen, was wir mit einer "Sobriety - Bewegung" in Deutschland ins Leben rufen möchten.
Abstinenz
Bin ich nun abstinenter als andere, nur, weil es mir nicht (mehr) schwer fällt? Und warum fällt es denn einigen Menschen "leichter" abstinent zu
"bleiben" und anderen wiederum nicht? Zur Entwicklung einer Abhängigkeit tragen unterschiedliche Komponenten bei wie: die eigene Lebensgeschichte, genetische Disposition, Einfluss der
Gesellschaft, etc. und diese spielen dann auch bei der Entscheidung, ein abstinentes Leben führen zu wollen, eine Rolle.
Ich kann in diesem Falle nur
von mir ausgehen, weil ich auch nur meine eigene Geschichte von Vorne bis Hinten kenne und sie gelebt habe und aus ihr gelernt habe. Im Folgenden möchte ich versuchen 8 Gründe aufzulisten, warum
Alkohol und Drogen in meinem Leben keine Rolle mehr spielen.
1. Stopptaste
Um mit dem Trinken und mit dem Konsumieren von Drogen aufzuhören, musste ich mich und mein Leben "stoppen" . Das funktioniert natürlich auch nur im übertragenen Sinne, aber es ging darum aufzuhören. Vielleicht ging es erst einmal gar nicht darum irgendeine Entscheidung zu treffen, sondern es ging darum gar keine Entscheidung zu treffen, stehen zu bleiben und durchzuatmen und mich selbst zu fragen: "Was mache ich hier eigentlich?" & "Will ich eigentlich so weiter leben?". In dem Moment habe ich noch nicht einmal die Entscheidung getroffen, nie wieder Alkohol zu konsumieren, oder nie wieder eine Line Speed meine Nasenscheidewand entlang zu jagen. Das Einzige, was ich getan habe war "Stopp" zu mir selbst zu sagen und mir einzugestehen, dass mein Leben so, wie es damals war, viel zu anstrengend und zerstörerisch ist. Und als ich in dem ganzen Wust Inne gehalten habe, konnte ich für mich selbst erkennen, dass ich so, wie mein Leben zu dem damaligen Zeitpunkt war, nicht mehr weiter leben wollte. (Obwohl ich noch nicht wusste, wie es anders funktionieren soll).
2. Rückzug
Nur weil ich mich zu einer Langzeittherapie entschlossen habe und diese der richtige Weg für mich war, heißt es nicht, dass dies der einzig richtige Weg ist. Jeder
Weg in Richtung Nüchternheit ist richtig, egal, wie er gegangen wird. Ob nun mit Hilfe einer Selbsthilfegruppe, einer ambulanten Therapie, einem Coaching, oder der eigenen Reflexion. Aber der
Rückzug und der Abstand aus meinem bisherigen Leben und meinem bisherigem Umfeld war wichtig. Und das heißt jetzt nicht, dass Du deine Sachen packen musst, dir ein Flugticket nach Timbuktu buchst
und damit sind deine Probleme und deine Abhängigkeit verschwunden. Vielmehr geht es darum, dass Du einen anderen Blickwinkel deinem Leben gegenüber einnimmst und dich fragst, was Du da eigentlich
soeben machst? Ergibt es Sinn wieder in meiner Stammkneipe zu versacken? Tut es mir gut mich mit meiner Partyclique zu treffen? Wenn mein bisheriges Leben, mein Verhalten und meine Strategien
dazu geführt haben, dass ich trinke und/oder konsumiere, dann sollte ich mein bisheriges Leben überdenken und einen Abstand zu Dingen, Menschen, Umgebungen gewinnen, die mir augenscheinlich nicht
guttun oder mich in den Konsum treiben.
Ich hatte als Kind ganz oft in dieser Übergangsphase zwischen Halbschlaf und Schlaf einen Traum, indem ich in eine Wiese "hineingeschrupft"
bin. Der Erdboden und das Gras kamen mir immer näher und näher, ich konnte die einzelnen Strukturen eines Grashalmes erkennen und mein Kopf tauchte in tausend grüne Fasern ein. Dieser Traum war
erdrückend, weil ich das Gefühl hatte, im Erdboden zu versinken. Ich habe alles so "nah an mich heran lassen müssen", dass es mich förmlich erdrückt hat und ich Angst bekommen
habe.
Ähnlich war es mit der Abhängigkeit. Ich war in meiner eigenen "Bubble" gefangen, die ich mir selbst kreiert habe
und dachte aller Leben besteht nur aus dem, was ich tat und das war arbeiten, trinken, feiern und unglücklich sein. Ich dachte, etwas anderes gibt ein Leben nicht her und wenn ich damit aufhöre,
dann höre ich komplett auf zu leben. In gewisser Weise stimm das auch, denn wenn du aussteigt, dann hörst Du auf dein Leben so zu leben, wie Du es vorher gewohnt warst.
Aber ich musste aussteigen um mir Zeit zu geben, um meinen Kopf aus dem Erdboden zu ziehen und mir die Gelegenheit geben, die gesamte Wiese zu
überblicken und mich zu fragen, wo ich denn eigentlich hin möchte und warum ich meine eigene Zeit damit verschwendet habe, meinen eigenen Kopf in ein Erdloch zu stecken und der Meinung zu sein,
dass das Sinn und Zweck meines Daseins ist. Ich hatte die Wiese vergessen.
3. Warum?
Diese Frage hätte ich früher mit "Weiß ich nicht!" beantwortet oder mit "Weil ich es anders nicht ertrage." Falls du das auch tust,
dann frage Dich wieder: Warum? Was ist es und was muss ich hier eigentlich ertragen? Vielleicht geht es auch nicht darum Ewigkeiten in der eigenen Vergangenheit herumzurühren und es geht auch
nicht darum, die Schuldfrage zu klären. Ich glaube, es geht ums verstehen und zwar primär um das Verstehen der eigenen Geschichte. Vielleicht geht es auch darum, sich selbst auseinander zu
dröseln und wieder zusammen zu bauen. Klingt so einfach, nicht wahr? Aber einfach ist es nicht. Früher habe ich mich fast ausschließlich gedanklich mit meiner Vergangenheit beschäftigt und habe
versucht analytisch an die Sache heranzugehen. Das funktioniert leider nur bedingt. Die Zusammenhänge waren klar, aber das Gefühl kam nicht hinterher.
Ich glaube es ging eher um die Frage, was ich nicht fühlen möchte, oder warum ich es nicht fühlen möchte und woher dieses Gefühl eigentlich kommt und dazu musste ich lernen,
meinen Kopf auszuschalten und das ohne Substanzen.
Wir wollen dort eigentlich nicht hin, weil es dort weh tun könnte. Wir denken, wir können Gefühle umschiffen, aber dann schwimmen wir in bunten Pillen und Alk. Wir müssen zu dem Ort zurück, von dem wir denken, dass er uns gefährlich werden kann, das wir es nicht aushalten werden und das es uns umbringen wird. Das wird es nicht, aber da müssen wir hin.
4. Ist
Und eigentlich ist die Reise in die Vergangenheit auch nur in soweit nötig, dass wir "Hier" ankommen. Es geht darum, Verletzungen aus der
Vergangenheit nicht mehr in die Gegenwart zu schleppen, um diese auch nicht weiter in die Zukunft schleppen zu müssen.
Wir können weder die
Vergangenheit ändern, noch können wir in die Zukunft blicken und wissen, was passieren wird. Das Einzige, was wir in gewisser Weise ändern können, ist das Hier & Jetzt. Und
indem wir in unsere Vergangenheit reisen, räumen wir auf und haben nicht mehr das Gefühl, irgendetwas liegen gelassen zu haben.
Den Ist - Zustand
habe ich dann insoweit für mich genutzt, als dass ich mich gefragt habe, wer ich wirklich bin. Wer bin ich eigentlich? Was mache ich hier? Wo will ich eigentlich hin? Was ist mir wichtig? Wie
funktioniert es eigentlich, mich gern zu haben? Der Ist - Zustand ist ja letztendlich immer unser Startpunkt für den darauffolgenden Moment. Immer nur jetzt und jetzt und jetzt. Ich weiß nicht,
was in 10 Minuten passieren wird, aber ich kann jetzt die Entscheidung treffen aufzustehen und in die Küche zu laufen, um den Wasserkocher anzuschalten.
Den Ist - Zustand können wir manchmal auch mit Langeweile verwechseln. Weil wir uns zurückgezogen haben und nüchtern unser Leben verändern wissen wir vielleicht nicht so
richtig, wie wir die Zeit nutzen sollen. Hier ist eine Zauberformel für dich: Du darfst alles machen, was dir Freude bereitet und dir guttut. Aber: wenn Du nüchtern leben möchtest, dann musst du
auf Alkohol oder Drogen verzichten. Dass bedeutet Abstinenz. Du kannst alles mit deinem Leben anfangen. Wirklich alles. Das Einzige, was Du entfernst sind Alkohol und/oder Drogen. Die Relationen
verschwimmen so schnell. als ich noch getrunken habe und Drogen konsumiert habe dachte ich, dass das mein Leben ist. Die Wahrheit ist aber, dass Alkohol und Drogen abhängig machen und mich
zerstört haben und das mein eigentliches Leben, in dem ich alles machen konnte, was ich wollte, an mir vorbeigezogen ist.
5. MisSion
Was habe ich als Kind gern getan? Wobei ist die Zeit an mir vorbei gezogen und ich wollte, dass der Moment nie vorüber geht. Was wollte ich als kleines Mädchen
eigentlich einmal werden, habe es mir dann aber doch nicht getraut. Und wie kann ich mich da abholen, wo ich stehen geblieben bin? Ich brauchte eine Mission. Etwas, wofür ich auf die Welt
gekommen ist. Etwas, mit dem ich meine kleine Welt besser machen kann. Es ist zwar manchmal ganz reizend etwas zu bekommen, aber ich glaube wir Menschen wollen viel mehr geben und erschaffen. Wir
möchten etwas kreieren, unseren Beitrag leisten. Ich glaube wir wünschen uns insgeheim etwas zu tun, was uns Freude bereitet und uns mit Sinn erfüllt. Wenn wir es nicht tun, da verwelken wir
innerlich.
Als kleines Mädchen wollte ich kreativ sein, Tiere retten, Menschen helfen. Als ich mich an der Stelle abgeholt habe, an der ich mich verloren habe
konnte ich feststellen, dass der eigentliche Wunsch geblieben ist. Und was tue ich heute? Ich bin kreativ, rette Tiere und unterstütze Menschen. Und sich zu trauen, seine eigene Mission zu finden
macht erst einmal Angst. Glaubenssätze wie: Ich bin nicht gut genug, andere sind viel besser etc. kommen auf. Ich verrate Dir noch eine Zauberformel: "Fang einfach an und mach weiter!"
Zweierlei Gefühle waren vorzufinden: Ich bin so aufgeregt, dass ich fast nicht mehr klar denken kann & Ich habe Angst, denn das ist viel größer, als ich. Und dann weißt Du, Du bist auf dem richtigen Weg.
6. Vertrauen
Ich glaube an das Leben. Manchmal stresst es mich und manchmal nervt es mich. Aber ich glaube an das Leben und ich glaube an die Kraft, die in mir steckt und ich
glaube an die Kraft, die in uns allen steckt.
Betrunken habe ich nicht meditiert - allenfalls Yoga gemacht. Betrunken habe ich auch nicht an Wunder
geglaubt, obwohl mir tagtäglich Wunder begegnet sind uns sich kleine und große Träume erfüllt haben. Aber ich habe nicht aktiv an meine Fähigkeiten geglaubt. Ich glaube, es gibt etwas, was über
mich hinaus geht, was aber genauso durch mich hindurchfließt. Ich glaube, dass Leben ist eine Aufgabe und die Aufgabe besteht darin, es zu leben. Und das sage ich nicht, weil es mir leicht
gefallen ist. Das sage ich nicht, weil ich immer bekommen habe, was ich wollte. Das sage ich nicht, weil mein Leben immer nur von Liebe erfüllt war und das sage ich auch nicht weil ich glaube,
dass es eine Macht gibt, die größer ist als ich und ich mich dieser ergeben muss. Ich glaube, ich habe es verdient zu leben und ich habe es verdient, dass es schön ist. Und ich glaube auch, dass
du es genauso verdient hast.
In den Nachrichten die ich bekomme steht oftmals so etwas wie "Ich bewundere dich für deine Stärke und deinen Mut". Und weißt Du was? Du bewunderst
dich selbst, denn ich bin nicht stärker oder mutiger als Du. Ich bin genauso wie Du. Ich habe mich genauso geschämt, ich hatte genauso Angst, ich wusste genauso wenig, wie ein nüchternes Leben
funktionieren soll, ich war genauso verzweifelt, oder überfordert und wollte manchmal aufgeben. Mach weiter.
7. Liebe
Ich liebe mich. That's it. Und einzig und allein aus diesem Grund kann ich das hier machen und kann dich lieben, obwohl ich dich vielleicht gar nicht persönlich
kenne.
In der Abhängigkeit von Substanzen suchen wir nach Liebe. Aber dieses Geschenk können wir uns nur selbst geben. Früher haben mir meine Familie, meine
Freunde, meine Partner oft gesagt, dass sie mich lieben und schätzen. Noch eine Zauberformel: "Du musst es für dich tun, denn du bist das Wertvollste, was du hast!"
8. andere menschen
Ich komme selten in Situationen, in denen ich mich und meine Nüchternheit erklären muss. Das liegt wohl daran, dass ich diesen Blog hier betreibe. Ich muss mich nicht erklären oder dafür entschuldigen, dass ich keinen Alkohol trinke. Das werde ich auch nicht tun. Ich habe mir auch noch nie Notlügen oder etwas dergleichen ausgedacht. Meine Freunde und mein Umfeld wissen alle Bescheid und alle sind geblieben. Das ist auch eine persönliche Entscheidung. Mein Umfeld ist mir wichtig. Indem ich mir das richtige Umfeld erschaffe, gibt es mir zusätzlich Sicherheit und Kraft. Ich umgebe mich hauptsächlich mit Menschen, die mir Kraft geben und wir uns gegenseitig unterstützen. Ich verbringe selten Zeit mit Menschen, die Kraft ziehen und ich das Gefühl habe, dass ich nach Begegnungen ausgelaugter bin.
Zudem schaffe ich mir ein Umfeld, welches zum größten Teil auch nüchtern lebt und obwohl ich früher oft feiern war und in Bars abgehangen habe - vermisse ich nichts. Ich habe zu viele andere Dinge zu tun, als das ich den Raum hätte, diese Dinge zu vermissen.
Natürlich gibt es Situationen, in denen ich überaus gestresst oder angespannt bin aber tatsächlich sind Alkohol oder Drogen nie eine Option, weil ich heute weiß, dass es dadurch noch schlimmer werden würde. Es gibt mir nichts mehr. Ich habe den Alkohol und die Drogen für mich herunter gebrochen und ich wünsche mir, dass ich nie wieder dort hingehen werde, wo ich schon einmal war. Ich weiß nicht, was in meinem Leben noch passieren wird, aber ich kann mir versprechen immer zu versuchen bestmöglich auf mich aufzupassen.
Und in Situationen, in denen es schwierig wird, kann ich immer gehen. Oder ich kann mich hinsetzen und warten und an die Wand starren. Ich tue dann einfach gar nichts und nichts tun ist dann auch eine Entscheidung gegen Alkohol und gegen Drogen.
photo credits: Peter Iloyd // unsplash
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Steve W. Aus LE (Donnerstag, 06 Mai 2021 19:10)
Hallo,
Also erstmal mein größten Respekt. Ich wünschte mir auch schon so weit mit meiner Prävention zu sein. Es ist noch ein langer Weg dahin. Dieser Blog wird sicher noch oft von mir gelesen. Und mehr und mehr arbeite ich an der Umsetzung. Danke das ihr euern Suchtverlauf hier preis gebt, um anderen Süchtigen in die richtige richtung zu lenken. Mfg