Vor gut drei Jahren hätte ich mir nicht vorstellen können hier so entspannt zu sitzen , die meiste Zeit über ausgeglichen und fröhlich zu sein und mein Leben so gut ertragen zu können. Die ersten beiden Schritte sind immer die schwierigsten. 1. sich eingestehen, dass der eigene Konsum und damit auch das eigene Leben außer Kontrolle geraten ist und 2. das dies dann wohl auch bedeutet, die Substanzen zu lassen. Das geht in unseren Kopf nicht rein. Das ist eigentlich das Schlimmste, was wir uns vorstellen können, weil wir glauben, dass ein Leben ohne Substanzen und in meinem Falle ohne Alkohol überhaupt nicht funktionieren kann, denn das ist doch das, was mich eigentlich noch am Leben hält. Hätte ich den Alkohol nicht, dann hätte ich ja gleich keine Freude mehr im Leben - schreit die Stimme im Hirn. Das Leben, welches ich heute führe, hätte ich mir vor drei Jahren einfach überhaupt nicht vorstellen können. Ich wusste nämlich nicht, dass ich eigentlich gar keine traurige Persönlichkeit bin, ich wusste auch nicht, dass ich eigentlich in der Lage dazu bin mir selbst zu vertrauen. Noch weniger wusste ich, dass ich eigentlich eine ziemlich ausgelassene und fröhliche junge Frau bin. Sicherlich hat mich meine Außenwelt so wahrgenommen, aber in mir drin herrschte stets so eine diffuse Schwere, die ich gar nicht einmal gut beschreiben kann. Es war eine lange Zeit lang noch nicht so schwer, dass ich meiner Meinung nach etwas dagegen unternehmen hätte müssen, aber es war auch nie leicht. Nur wusste ich nie, woher diese Schwere eigentlich kommt. Ich dachte insgeheim eigentlich, dass jeder Mensch diese Schwere fühlt. Ich dachte, dass diese Schwere des Lebens einfach mit dazugehört.
Meine Pink Cloud ist vorbei.
Ganz offiziell und ohne großes Tamtam kann ich hiermit sagen, dass die Pink Cloud vorüber ist, wobei ich diese nie wirklich an irgendetwas festmachen konnte. Sie kam leise und ging leise und das ist ok so. Und ich bin ihr sehr, sehr dankbar, dass sie da war. Ich bin aber auch nicht traurig darüber, dass sie nun weg ist. Es heißt nur so viel, dass ich jetzt etwas mehr für meine gute Stimmung machen muss. Das heißt wiederum, dass ich umso mehr versuche bestimmte Routinen einzuhalten. Routinen wie:
- morgens 30 Minuten lang meditieren
- viel Wasser trinken
- ein Dankbarkeitstagebuch führen
- schlafen, wenn ich müde bin
- lustig sein, wenn ich lustig bin
- traurig sein, wenn ich traurig bin
- wütend sein, wenn ich wütend bin
- Yoga praktizieren (ohne Kopf- und Handstand, weil ich das nicht kann und das ist völlig ok so)
- Laufen gehen, ohne das es 18 km sein müssen (ich habe den Wettkampfmodus aufgegeben, weil der viel zu anstrengend ist)
- viel Obst essen
- viel Gemüse essen
- immer mehr so sein, wie ich bin
Perspektive
Was mir die letzten Tage aufgefallen ist ist eigentlich wirklich erstaunlich, denn an und für sich befinde ich mich momentan in einer Situation, die ich so ähnlich schon kenne. Vor genau genommen fast 3 Jahren glich mein "Lebenssetting" tatsächlich dem heutigen (nur ohne Corona & mit Alkohol). Und dies fiel mir letztens wie Schuppen von meinen Augen
das setting
- ich lebe vorübergehend bei meiner Mutter
- ich bin Single
- ich versuche beruflich mein Leben auf die Reihe zu bekommen
betrunken ...
.. hatte ich weder die Energie mich um mich und mein Leben zu kümmern, noch habe ich mein Leben auf irgendeine Art und Weise genießen können. Ich hatte Existenzängste, ich hatte generell Ängste. Ich habe weder an mich, noch an die Zukunft geglaubt. Ich dachte alleine sein ist schrecklich - deswegen habe ich immer "den Falschen" gewählt und wurde am Ende auf mich zurückgeworfen und war diffus traurig. Ich wusste weder wie ich mein Leben auf die Reihe bekommen soll, noch wusste ich, was ich eigentlich wirklich will. Ich war komplett auf Opfermodus programmiert und habe mich noch dazu für meinen Zustand und meine Umstände geschämt. Dabei kam ich nie sonderlich schwach rüber. Man hätte bis zum Ende meiner Trunkenheit sagen können, dass ich weitestgehend noch alle beisammen hatte. Aber so ist das nun einmal wenn innere und äußere Welt nicht zusammenpassen und wir uns innerlich viel, viel kleiner machen als wir äußerlich eigentlich sind.
Betrunken war ich dramatisch und habe dramatische Musik gehört, dramatische Texte geschrieben, dass Leben als unendlich Schräg empfunden.
nüchtern ...
... bin ich Single und absolut zufrieden. Nüchtern habe ich gelernt, wer ich wirklich bin und was ich mir in meinem Leben wünsche. Nüchtern gehen Wünsche auch oftmals in Erfüllung. Nüchtern habe ich gelernt, mir selbst zu vertrauen. Nüchtern habe ich gelernt meine eigenen Grenzen zu erkennen und zu setzen. Nüchtern label ich einen Tag viel seltener mit "beschissen". Nüchtern kann ich mit mir alleine sein, ohne dass das schlimm für mich wäre. Nüchtern wachse ich über mich selbst hinaus und tue fast permanent Dinge, von denen ich betrunken dachte, dass ich sie nicht könnte. Nüchtern sind auch nicht immer alle Dinge einfach, aber nüchtern fühlt sich alles leichter an, denn mit klarem Kopf kann ich besser Entscheidungen treffen.
Wenn sich ein Teilchen im System ändert, dann ändert sich das gesamte System. Dies kann ich auf mich ganz persönlich, aber auch auf mein näheres Umfeld beziehen.
Nüchternheit musste ich lernen, weil ich mir zuvor beigebracht hatte, dass nur betrunken sein erträglich ist, bis es unerträglich war. Du musst nicht alles auf einmal ändern. Du musst nicht sofort wissen, wie nüchtern sein geht. Du musst nicht von heute auf morgen mit einem 10 km Lauf beginnen. Du musst nicht die perfekte Morgenroutine haben und alles umsetzen, damit alles perfekt ist. Es reicht zunächst einmal wenn du die Entscheidung triffst, nichts mehr zu trinken bzw. zu konsumieren und dir eine Strategie überlegst, welche dich davon abhalten beziehungsweise dich in deiner Nüchternheit unterstützen könnte. Es reicht, wenn du dich mit der Thematik beschäftigst. Es reicht völlig aus, wenn du einen Schritt nach dem anderen gehst.
Die gute Nachricht ist: der Weg ist das Ziel.
Die schlechte Nachricht ist: der Weg ist das Ziel.
photo credits: Evie S // unsplash
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