Je mehr man also anfängt, etwas zu brauchen, sei es einen Mann oder eine Flasche Wein, desto mehr überzeugt man sich unwissentlich - reflexhaft, implizit - davon, ohne dieses Etwas nicht genug zu sein - Eve Kososky Sedgwick
aus "Die Klarheit"
Wir kommen im besten Falle nüchtern auf die Welt. Das dürfen wir nicht vergessen. Aber irgendwie vergessen wir es doch, sobald wir Erwachsen werden.
Als Kind konnte ich ausgelassen spielen, ohne einen Drink zu benötigen. Ich konnte mir die Zeit vertreiben, ohne eine Line Speed zu ziehen. Ja ich konnte sogar zu "Lambada" tanzen, ohne vorher ein halbes Teil geschmissen zu haben. Anderen Menschen durften mir sogar beim Tanzen zusehen. Es hat mich einfach nicht gestört, es hat mir eher Freude bereitet.
Als Kind brauchte ich auch nach der Schule kein Glas Rotwein, um mich endlich zu entspannen. Als Kind habe ich mich entspannt, wenn ich Entspannung für nötig gehalten habe. Und als Erwachsene habe ich dann irgendwann in der Illusion gelebt, dass Alkohol dazugehört und das ich ohne Substanzen nicht mehr die sein kann, die ich doch sein möchte. Ich hatte das Gefühl, dass ich ohne Alkohol und anderen Substanzen einfach nicht mehr dazugehören würde. Aber wo denn eigentlich dazugehören und wer denn eigentlich sein? Wer sagt mir denn, dass ich nüchtern niemand mehr bin? Das war doch schlussendlich ich selbst.
Lügen, die ich mir erzählt habe:
Alkohol entspannt mich.
Falsch. Entspannung entspannt mich. Mich hinsetzen entspannt mich. Nichtstun entspannt mich. Schlafen entspannt mich. Mich hinlegen entspannt mich. Alkohol macht mich betrunken.
Wenn Alkohol mich entspannen würde, dann würde ich mich doch am darauffolgenden Tag meiner Entspannung eigentlich besser fühlen müssen, oder? Wenn ich nach einer Entspannung entspannt bin und nachdem ich Alkohol getrunken habe unentspannter bin, als ich vorher war, dann kann mich doch Alkohol überhaupt nicht entspannen.
Alkohol macht, dass mein Körper mehr und mehr damit beschäftigt ist, das Gift aus meinem Körper zu transportieren, weil ich mich sonst selbst vergiften würde.
Alkohol belohnt mich.
Wenn Alkohol meine Belohnung sein sollte, dann kann ich ja vorher nicht so eine gute Leistung erbracht haben, sonst könnte ich ja nicht auf die Idee kommen, ein Nervengift in mein System zu schütten.
Was bedeutet denn Belohnung eigentlich? Ist Belohnung denn nicht eigentlich etwas Gutes? Ist Belohnung denn nicht etwas, was mir nicht schadet? Und wofür denn eigentlich belohnen?
Wenn ich mich in meinem Körper wohlfühlen und gut auf mich aufpassen, mich wertschätze, mich selbst gern habe, dann muss ich mich für nichts belohnen, dann dann schätze ich mich und meinen Körper die ganze Zeit und würde nicht auf die Idee kommen, diesen Vorsätzlich zu schädigen.
Alkohol ist ein Genussmittel.
Was schmeckt denn ganz genau am Wein, am Schnaps, am Bier? Hat mir mein erster Schluck Alkohol überhaupt geschmeckt? Warum verziehen Kinder das Gesicht, wenn sie das erste Mal an einem Glas mit Alkohol nippen? Sind sie einfach nur zu blöd um zu verstehen, dass Alkohol eigentlich schmeckt? Sind ihre Geschmacksknospen nicht vollends ausgebildet, sodass sie noch nicht schmecken können, dass Ethanol eigentlich etwas sehr schmackhaftes für den menschlichen Körper ist?
Wenn es zu alkoholfreien Alternativen kommt, dann gibt es solche und solche. Pepsi schmeckt auch nicht wie Cola. Apfelsaft ist nicht gleich Apfelsaft und Fencheltee nicht gleich Pfefferminztee.
Ich habe alkoholfreie Alternativen probiert, der einzige Unterschied ist, dass der Alkohol fehlt. Der bittere Geschmack und die Wirkung.
Ethanol schmeckt nicht.
Weil der Mensch schon immer so war.
Wir haben uns weggeknallt, weil wir uns schon immer weggeknallt haben. Das ist eine sehr gute Ausrede. Weil es schon immer so war. Diesen Satz höre ich tatsächlich sehr, sehr häufig. Aber sind wir Menschen nicht eigentlich auf die Welt gekommen, um uns weiter zu entwickeln?
Hätten wir es lieber dabei belassen sollen, dass Frauen nicht wählen dürfen, weil es schon immer so war?
Hätten wir weiter in einer Höhle leben sollen, weil es schon immer so war?
Zigaretten sind doch eigentlich gar nicht so schlimm, der Mensch hat doch schon immer irgendetwas geraucht, oder?
Mich auf einem "weil der Mensch schon immer so war" auszuruhen, kommt mir irgendwie zu einfach vor.
Menschen werden nun einmal abhängig - weil es schon immer so war. Also hätte ich ja auch gleich abhängig bleiben können und nichts an meiner Situation ändern müssen.
Alkohol lässt mich besser schlafen.
Alkohol macht mich einfach nur betrunken. Wenn ich Alkohol in mein System spüle, dann ist mein System damit beschäftigt, das Gift aus dem Körper zu bekommen. Je mehr Gift in meinem Körper ist, desto mehr ist mein Körper damit beschäftigt, das Gift aus meinem Körper zu bekommen und weil er so damit beschäftig ist, setzt er nach und nach Körperfunktionen aus. An und für sich schlafe ich dann nicht ein, sondern ich werde bewusstlos.
Wenn Alkohol uns dabei helfen würde besser zu schlafen, dann müssten wir doch eigentlich am nächsten Morgen aufwachen und uns fühlen wie frisch aus dem Ei gepellt.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass das jemals der Fall war, als ich noch getrunken habe.
Mit alkohol bin ich selbstbewusster.
Mit Alkohol bin ich betrunkener und die Wahrscheinlichkeit steigt, dass ich irgendwelches Zeug von mir gebe, was gar keinen Sinn ergibt und ich mich am nächsten Morgen nicht einmal daran erinnern kann.
Nüchterne Menschen haben ein langweiliges leben.
Mein Leben ist spannender als jemals zuvor.
Ich habe kein schlechtes Gewissen mehr.
Ich fühle mich fitter.
Ich kann ruhig schlafen.
Ich bin nicht permanent damit beschäftigt zu trinken.
Ich bin nicht permanent damit beschäftigt, dies zu verheimlichen und vor mir selbst zu rechtfertigen.
Ich bin nicht permanent damit beschäftigt einen Kater auszukurieren und mich zu fragen, ob mein Trinkverhalten noch ok ist.
Ich bin nicht permanent damit beschäftigt mir Gedanken über mein eigenes Trinkverhalten zu machen.
Ich bin damit beschäftigt zu leben.
Ich werde keine sozialen kontakte mehr haben.
Hattest du diese vorher, oder warst du eigentlich nur damit beschäftigt zu trinken?
photo credits: Pedro da Silva // Alban Martel // unsplash
Buchtipp: Jason Vale "Kick the Drink easily"
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Steffen (Samstag, 13 Januar 2024 16:42)
Eigentlich so selbstverständlich und wahr der Absatz über die Kindheit, trotzdem vergisst man es als Erwachsener, dass man früher keinen Alkohol oder Drogen brauchte, um zu entspannen, um Spaß zu haben oder um ausgelassen und selbstbewusst zu sein.