Der Mensch ist ein Rudeltier. Er möchte dazu gehören. Gemeinsames Trinken löst in vielen Kreisen ein Gemeinschaftsgefühl aus. Als ich vor sechs Jahren die Alkoholfahrt hatte, habe ich zuvor mit Arbeitskollegen getrunken. Ich war noch relativ neu in der Firma und da ich seit der Studienzeit gut und gerne trank, wollte ich mich bei diesen geselligen Bräuchen, wie z.B. dem Anstoßen zum Wochenausklang, nicht ausschließen. Ohnehin hatte ich in der Firma einen schweren Start gehabt. In dem Büro ging es wegen immer wiederkehrender Entlassungswellen drunter und drüber. Die Stimmung war extrem schlecht und zudem hatte ich ein Mobbing Problem: Eine Kollegin hatte nur einen befristeten Arbeitsvertrag, während ich von vorn herein an ein unbefristetes Arbeitsverhältnis gebunden war. Das machte sie damals sehr wütend und eifersüchtig auf mich. Warum die Geschäftsführung das damals so beschlossen hatte, weiß kein Mensch. Die Intrigen und Manipulationsversuche dieser Frau haben mich damals sehr mitgenommen. Teilweise kam ich mir so vor wie in einer schlechten Seifenoper. Heute sehe ich sie aber mit einer gewissen Gelassenheit und aus einem milderen Blickwinkel heraus an. Sie war Unkraut am Wegrand, mehr nicht.
Mittrinken birgt immer ein Zeichen der Solidarität in sich. Es geht um das gesellige Beieinander sein. So findet man Verbündete und bekommt einen besseren Stand im Kollegenkreis. Daher wurde dieses Vorgehen des Mittrinkens mit „Erfolg“ gekrönt, der für mich persönlich unheimlich bitter war. Ich verlor meinen Führerschein. Danach entschied ich mich für die Abstinenz. Einen anderen Weg gab es nicht. Bei einem Schluck Wein setzt bei mir schon der Kontrollverlust ein. D.h. es bleibt nie bei einem Glas, es muss immer gleich die ganze Flasche sein. Wenn zwei oder drei Flaschen auf Vorrat da sind, werden die auch gleich mit getrunken. Wenn ich einmal anfange zu trinken, finde ich kein Ende mehr. Es ist wie ein Hebel, der in meinem Kopf umgelegt wird; total erschreckend. Ich schreibe hier bewusst in der Gegenwart, weil ich mir sicher bin, dass das heute auch noch so wäre, wenn ich es nicht seit sechs Jahren schaffen würde das erste Glas stehen zu lassen. Das mit dem Kontrollverlust wird man nicht los. Wenn einem das bewusst ist, wird auch klar, warum kontrolliertes Trinken nicht möglich ist. Verloren bin ich nur, wenn ich was trinke. Der Weg der Abstinenz ist somit zwar der radikalste, aber auch der einfachste Weg seinen Führerschein wieder zu bekommen. Alle anderen Lösungen sind viel komplizierter.
Wenn man sich für den kompromisslosen und dauerhaften Verzicht auf Alkohol in jeder Form und Menge entscheidet, wird es einem nicht leicht gemacht. Denn die Mehrheit der Bevölkerung trinkt. Man muss sich Maßnahmen und Strategien überlegen, um dem Gesellschaftsdruck auf Dauer stand halten zu können. Ich wollte nach der Alkoholfahrt weiterhin mit meinen Kollegen gesellig sein und mich nicht ausschließen. D.h. ich wollte auch künftig zum Wochenausklang mit ihnen anstoßen, mit auf Weihnachtsmärkte gehen und Geburtstage feiern. Also musste jede Trinksituation genauestens durchdacht und vorbereitet werden. Ich begann mir meine Getränke selbst mitzubringen. Das waren Getränke, die für mich etwas Extravagantes hatten; also die ich nicht jeden Tag trank, aber gerne. Das war z.B. ein leckeres Mixgetränk aus Tonic Water, Mineralwasser und Bananensaft. Wenn ich damals versucht hätte mit einem alltäglichen Mineralwasser anzustoßen, wäre die Gefahr eines Rückfalls größer gewesen. Denn Mineralwasser ist für solche Anlässe zu wenig „sexy“, wie einer meiner ehemaligen Marketing Chefs es ausdrücken würde. In den ersten beiden Jahren meiner Nüchternheit war ich so auf jede Trinksituation vorbereitet und so sind meine Vorsätze nicht bloß Vorsätze geblieben.
Das erste Jahr meiner Abstinenz war das Jahr nach dem Führerscheinverlust und für mich auch das Schwerste, weil ich bis zum letzten Moment nicht wusste, ob ich die MPU, also die medizinisch psychologische Untersuchung, schaffen würde oder nicht. Es war ein Jahr voller Unsicherheit, Unruhe, ständiger Nervosität und Angespanntheit. Im zweiten Jahr war ich auf Honeymoon mit mir selbst und meinem abstinenten Leben, weil alles so leicht erschien und es war auch das erste Jahr mit zurück gewonnener Fahrerlaubnis. Das dritte Jahr der Nüchternheit war etwas schwieriger, weil so viele Schicksalsschläge passiert sind. In dem Jahr bin ich bestimmt zwei bis dreimal zu den Anonymen Alkoholikern gegangen, weil ich merkte, dass ich wieder Lust hatte zu trinken. Dank der Hilfe der AA-Freunde hatte ich damals keinen Rückfall. Ich schätze an ihnen sehr, dass man dort IMMER aufgegangen wird, mit seinem ganzen Scheiß, obwohl man so gut wie nie hin geht. Diese Selbsthilfegruppen sind Gold wert. Am meisten hat mir bei AA der Gelassenheitsspruch geholfen:
"Gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann und dieWeisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden."
Diesen trage ich immer bei mir. Er stellt für mich ein Energiesparmodell dar. Wenn ich es eilig habe und im Stau stehe, atme ich drei Mal tief ein und sage diesen Spruch leise vor mich her, immer wieder. Ich werde sofort ruhiger. Er hilft auch beim Umgang mit gefühlsstarken Kindern im Trotzphasen-Alter sowie überhaupt in sämtlichen Alltagssituationen, die man gerade gar nicht gebrauchen kann.
Als ich den Führerschein wiederhatte, wusste ich die ganze Zeit, dass das erst der Anfang war. Das Nüchtern werden hatte ich geschafft. Das Nüchtern bleiben war die Herausforderung. In der verkehrspsychologischen Schulung, die ich zur Vorbereitung auf die MPU besucht hatte, wurde auch von zeitlichen Meilensteinen gesprochen.
Diese zeitlichen Meilensteine sind:
- Zeitraum bis zur Führerschein Neuerteilung
- Die ersten 12 Monate nach der Führerschein Neuerteilung
- Das zweite Jahr nach Führerschein Neuerteilung
- Die ersten 5 Jahre nach Führerschein Neuerteilung
- Die ersten 7 Jahre nach Führerschein Neuerteilung
- Die ersten 10 Jahre nach Führerschein Neuerteilung
Das Wissen um diese zeitlichen Meilensteine, hilft mir dabei nüchtern zu bleiben, weil ich so die ernst gemeinten Vorsätze von damals nicht vergesse. Seit dem vierten Jahr der Abstinenz fällt es mir nicht mehr schwer nüchtern zu bleiben; vermutlich, weil ich die entsprechenden Abwehrmechanismen verinnerlicht habe. Alkoholabstinenz fühlt sich auch in keinster Weise mehr nach Verzicht an, sondern eher wie die absolute Lebensbejahung. Trotzdem weiß man nie, was das Leben noch so für einen bereit hält.
Die schwerwiegendste Erkenntnis der ganzen Angelegenheit war, dass ich erst den Führerschein verlieren musste, um zu verstehen, dass ich ein Alkoholproblem habe. Jahrelang hatte ich nicht gut für mich und mein seelisches Wohlergehen gesorgt. Ich hatte mich immer nur um das Materielle gekümmert. Das, was mein Herz wollte, blieb außen vor. Deswegen hat mein Leben auch so stark an Lebensqualität gewonnen, seitdem ich aufgehört habe zu trinken. Es ist alles besser geworden. Der Tag der Alkoholfahrt ist gleichzeitig der Tag, an dem ich aufgehört habe zu trinken. Er fühlt sich jedes Jahr wie ein zweiter Geburtstag an, weil ich alles nochmal auf Neustart setzen konnte. Die Alkoholfahrt ist und bleibt eine absolute Grenzerfahrung in meinem Leben und wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich mein Leben nicht nochmal neu ausrichten können.
Was mich jedoch bis zum heutigen Tag umtreibt, ist die Tatsache, dass ich bis zum Führerscheinverlust keinen blassen Schimmer davon hatte, dass Alkohol zu den harten Drogen zählt und somit als Rauschgift gilt. Das Suchtpotential ist höher als bei Hasch und Koks. Aber Alkohol bekommst du an jeder Straßenecke. Das ist so widersprüchlich. Als ich das erfahren habe, kam ich mir zum ersten Mal in meinem Leben nicht gut aufgeklärt vor; weder von den Medien noch von der Schule und von meinen Eltern ganz zu schweigen. Berichten der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen zufolge bekommt jeder fünfte Deutsche ein Alkoholproblem. Das sind 20 %, also eine Minderheit. Da aber 96 % der Bevölkerung trinken, sind die Fallzahlen, die damit irgendwann mal ein Problem bekommen werden, extrem hoch. Mehr als 1,6 Millionen trinken missbräuchlich und etwa 1,77 Millionen Menschen in Deutschland sind davon abhängig. Ich zähle mich dazu. Nachdem ich aufgehört habe zu trinken, habe ich zunächst niemanden, außer meiner Familie und meinen engsten Freunden, davon erzählt. Als auf der Arbeit angestoßen wurde und ich den Sekt verweigert habe, hieß es: „Sonja, du musst doch üben.“ Diese Kollegin hat mir zweimal Sekt eingeschenkt, den ich beide Male abgelehnt habe. Gut, dass es Büropflanzen gibt. Es war nicht in Ordnung wie in dieser Bürogemeinschaft mit Nichttrinkern umgegangen wurde. Ein „Nein“ bleibt ein „Nein“ und es sollte in jeder Situation gehört und respektiert werden. Damals habe ich mir gedacht: Wenn die wüssten in was für einen Schlamassel ich durch diese kollegialen Umtrunks geraten bin. Wenn die eine Vorstellung davon hätten, was es heißt seine Abstinenz nachweisen zu müssen. Aber zu der Zeit konnte ich das niemandem erzählen. Niemand durfte wissen, wie sehr mir mein Hintern auf Grundeis gegangen war. So sehr habe ich mich dafür geschämt, dass ich mit dieser legalen Alltagsdroge nicht umgehen kann.
Hier sehe ich ein riesiges Aufklärungsdefizit und deswegen schweige ich nicht mehr länger zu dem Thema. Alkohol ist eine hochgradig süchtig machende Substanz und die, die ihr zum Opfer fallen, müssen davor geschützt werden und nicht noch animiert werden sie zu konsumieren. Vor allem dürfen diese Menschen nicht als schwach abgestempelt oder gar verpönt werden, bloß weil sie die Kontrolle über ein Rauschgift verlieren. Ich gebe zu dem Alkohol gegenüber ohnmächtig zu sein, aber ich bin alles andere als schwach. Es gehört nämlich viel Willensstärke, Mut und Kraft dazu dauerhaft gegen den Strom zu schwimmen. Es ist wichtig, dass Betroffene darüber sprechen, informieren und Erfahrungen austauschen. So kann eines Tages ein Umdenken stattfinden und dann besteht eine realistische Chance, dass mit dem Thema Alkoholabhängigkeit ehrlicher umgegangen wird.
geschrieben von: @annika.sober. (Instagram)
photo credits: Simona Bednarek // Drew Dau; Stephen Arnold (unsplash)
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